Wunder kommt von wundern

Weisheits-Journal

Ausgabe

01/2023
Weisheits-Artikel

Wunder kommt von wundern

„Wunder gibt es immer wieder“ sang Katja Ebstein 1970 beim Grand Prix Eurovision de la Chanson, wie er zu dieser Zeit noch hieß. Ihr dritter Platz von damals wäre für die deutsche Delegation von heute wohl schon ein mittelgroßes Wunder. Aber – Wunder im selben Atemzug wie Grand Prix? Ist mit Wunder nicht eher so etwas wie ein Naturwunder gemeint? Ein Weltwunder? Ein biblisches Heilungswunder? Wobei: Wenn Jesus Wunder wirkte – was wirkte der Buddha? Mirakulöse Fragen ...

Und wundersame Antworten, zum Beispiel von Ranga Yogeshwar über Wunder in der Naturwissenschaft, von einem Notfallsanitäter über Wunder im Rettungswagen und von einem Zen-Lehrer über Wunder auf dem Kissen.

Wun-der, das

1.

außergewöhnliches, den Naturgesetzen oder aller Erfahrung widersprechendes und deshalb der unmittelbaren Einwirkung einer göttlichen Macht oder übernatürlichen Kräften zugeschriebenes Geschehen, Ereignis, das Staunen erregt

2.

etwas, was in seiner Art, durch sein Maß an Vollkommenheit das Gewohnte, Übliche so weit übertrifft, dass es große Bewunderung, großes Staunen erregt

Quelle: Duden

Kein Wunder. Was Wunder. Wunders wie geschickt sein – so viele Wendungen und Redensarten in unserer Sprache tragen ein „Wunder“ in sich, dass man glatt sein blaues Wunder erleben kann. Generell muss Wunder ein wichtiges Wort sein: Schon wer eine Deutschprüfung auf dem niedrigen B1-Niveau ablegen will, muss das Wort Wunder in seinem Wortschatz haben.

Wobei sich natürlich die Frage aufdrängt, was denn so ein Wunder überhaupt ist. Selbst im lexikalischen Sinn ist ein Wunder mehrdeutig. Der Duden kennt es einerseits als ein den Naturgesetzen widersprechendes Ereignis und andererseits als große Bewunderung, großes Erstaunen.

Doch ganz gleich, ob es um das Wunder im Spannungsfeld zu den Naturwissenschaften oder um das große Staunen geht: beide, das Wunder und das Wundern, sind gut für ein gutes Leben. Und gut leben, das wollen wir am liebsten alle. Erforschen wir deshalb Wunder und Wundern im großen Feld von Wissenschaft und Spiritualität zusammen mit Menschen, die bei ihrer Arbeit tagaus, tagein Wundern begegnen. Gerade weil sie das Wundern nicht verlernt haben.

Wunder in der Naturwissenschaft

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Ranga Yogeshwar ist studierter Experimental- und Astrophysiker. Seit 1983 arbeitet er auch als Journalist, hat Sendungen wie „Quarks & Co“ für den WDR oder „Die große Show der Naturwunder“ für die ARD moderiert und verantwortet. Für das Weisheitsjournal nimmt sich der Journalist gerne Zeit, lädt virtuell in sein Studio ein.

Im Interview stellt er klar, dass vor allem die eine Haltung eine Rolle spielt und es das Wunder nicht ohne das Wundern gibt: „Es geht eher um eine Perspektive, bei der wir das Wort Wunder im Detail ein bisschen auseinandernehmen müssten. In dem Kontext, in dem ich es verwendet habe, geht es um das Sich-Wundern-Über, im Grunde genommen um das Entzücktsein über die Großartigkeit bestimmter Naturphänomene.“ Wenn diese Haltung stimme, sagt Yogeshwar, dann sei es gleich, ob es um das kleine Wunder im Alltag oder das große, exotische Phänomen gehe.

Mit dieser Haltung, fährt Yogeshwar fort, gäbe es immer wieder Phänomene, die geradezu unfassbar seien. Doch besonders unfassbar sei das Wunder Mensch: „Es ist das absolute Wunder, wenn die eigenen Kinder geboren werden. Das ist bei aller Wissenschaft, die ich hoch einschätze, dennoch so, dass es einen unglaublich berührt. Dass man in gewisser Weise den Rahmen der Wissenschaft, die sehr beschränkt ist, verlässt und sich im wahrsten Sinn am Wunder Mensch erfreut.“

Naturwissenschaft könne vieles erklären. Und bleibe doch beschränkt. Beides ist Yogeshwar wichtig: „Es geht darum, dass das richtige Leben zum Teil beschreibbar, zum Teil zu verstehen ist. Dass diese Grenzen des Wissens im Lauf der Zeit immer mehr zunehmen. Ein Beispiel: Vor einigen Wochen gab es, wie wir alle wissen, ein schlimmes Erdbeben in der Türkei und in Syrien. Inzwischen versteht man, wie es zu solchen Beben kommt.

Dieses Phänomen hätte vor 1000 Jahren bei dem ein oder anderen ganz andere Assoziationen hervorgerufen. Es gibt also Bereiche, in denen Wissenschaft jetzt etwas versteht. Aber sehr bescheiden muss man an der Stelle sagen: Es gibt noch so viel, was man nicht versteht und was man möglicherweise aus bestimmten Prinzipien heraus nie verstehen kann. Ich sage immer: Wissenschaft operiert in einem gewissen Kontext, aber die Welt in toto, das Universum ist immer größer gewesen und wird das auch in Zukunft sein.“

Wenn wir es noch tiefer betrachteten, bestehen wir aus Elementen, die irgendwann vor langer Zeit, wohl vor über viereinhalb Milliarden Jahren in Sternexplosionen entstanden sind und dieser Sternenstaub formierte sich dann irgendwann die Erde und irgendwann landeten die Elemente dann bei mir im Knochen.

Ranga Yogeshwar

Spannend wird es, wenn es um den auch in Zukunft unerklärlichen Rest geht: „Was das ist, ist ein ganz anderes, großes Fragezeichen. Gläubige Menschen werden sagen, das ist kein Zufall, das ist das Werk des Schöpfers. Aber das ist die eigene Interpretation.“

Für Yogeshwar sind wir wie ein Geschichtsbuch unserer Vorfahren: „Wir sind genetisch ein Stück der Mutter, des Vaters, der Großeltern usw. Wenn wir es noch tiefer betrachteten, bestehen wir aus Elementen, die irgendwann vor langer Zeit, wohl vor über viereinhalb Milliarden Jahren, in Sternexplosionen entstanden sind. Dieser Sternenstaub formierte sich dann irgendwann zur Erde und irgendwann landeten die Elemente in meinen Knochen. Ich finde, das ist atemberaubend, wenn man sich das wirklich einmal vorstellt.“

Wunder gibt es vielleicht, um noch mal auf Katja Ebstein zurückzukommen, immer wieder. Aber falls es sie gibt, dann auch: überall. Zum Beispiel im Rettungswagen.

Wunder im Rettungswagen

Wer auch immer ein einziges Leben rettet, der ist, als ob er die ganze Welt gerettet hätte.

Babylonischer Talmud

Das Martinshorn heult, das Blaulicht dreht sich immer dann auf einem Rettungswagen, wenn Menschen in Not und Gefahr sind. Oder sich zumindest darin wähnen. Wenn Ranga Yogeshwar vom schrecklichen Erdbeben in der Türkei und in Syrien spricht, dann erinnern wir uns an die Schlagzeilen, in denen es um Tod und Not, um Angst und Schrecken ging. In den ersten Stunden und Tagen ging es darin aber immer wieder auch um Wunder.

Da war das „Wunderbaby“, ein Neugeborenes, das als einziges Familienmitglied das Erdbeben überlebte. Da waren die Menschen, die nach Tagen noch lebend unter den Trümmern geborgen wurden. Da war eine Stadt, Erzin. Obschon nur 100 Kilometer von einem der zwei Epizentren entfernt, stürzte in Erzin kein einziges Gebäude ein, starb keiner der 42 000 Menschen dort. Kein Wunder, dass die Menschen von einem Wunder sprachen.

Wo das Leben vom Tod bedroht ist, scheinen wir Menschen auch am ehesten zu so erstaunlichen Höchstleistungen bereit, dass uns das Wunderwort schnell auf die Zungen springen will. Unvergessen die Rettung in der Riesenhöhle im Juni 2014. In 1000 Metern Tiefe war der erfahrene Höhlenforscher Johann Westhauser von einem Stein schwer am Kopf verletzt worden. 700 Menschen aus fünf Ländern halfen, den Forscher zu bergen, die Rettung dauerte 12 Tage. International wurde berichtet, international bangten die Menschen und verfolgten die unglaublich aufwändige, hochkomplexe und dramatische Bergung.

Warum sind wir manchmal zu solchen extremen Anstrengungen bereit? Vielleicht, weil es nur scheinbar um das Leben eines einzelnen Menschen geht, in Wirklichkeit aber in dem einem Leben um das Leben schlechthin?

Warum es im Rettungswagen keine Wunder gibt und was Finn Giersberg im Rettungswagen übers Leben lernt.

Einer, der das Retten zu seinem Beruf macht, ist Finn Giersberg. Der 24-jährige Kölner ist auszubildender Notfallsanitäter im dritten Lehrjahr. Die Arbeit im Rettungsdienst hat seinen Blick auf das Leben verändert. Vor allem seinen Blick dafür, wie schnell sich von einem Moment auf den anderen alles ändern kann: „Keiner von den Patientinnen und Patienten steht morgens auf und denkt sich: Heute ist ein guter Tag für einen Herzinfarkt oder für einen Sturz vom Fahrrad und einen gebrochenen Arm.“

Der Blick für die Kostbarkeit und die Verletzlichkeit des Lebens wird bei Finn Giersberg so schon in jungen Jahren geschärft – so wie auch jeden Tag neu sein Blick auf das Wunder des Lebens. Insbesondere dann, wenn er im Rettungswagen eine Geburt begleitet, obwohl diese Einsätze für alle im Rettungsdienst ungeheuer herausfordernd sind: „Aber der Moment, in dem man ein Neugeborenes der Mutter schreiend auf die Brust legt, ist einer, den man nie mehr vergessen kann.“

Echte Wunder hat Finn Giersberg noch nicht erlebt, aber: Er erwartet sie auch nicht. Schließlich seien die Leitlinien, nach denen die Rettungsdienste arbeiteten, streng naturwissenschaftlich ausgerichtet und versuchten, das darin enthaltene Wissen so gut wie möglich für die Patienten und Patientinnen anzuwenden, meint er.

Soweit zu dem, was die Wissenschaft zu Wundern zu sagen hat. Wie ist es um die Spiritualität bestellt? In seiner Welt beobachtet der Zen-Lehrer Paul Kohtes Wunder um Wunder.

Wunder auf dem Kissen

Der Zen-Lehrer Paul Kohtes über Wunder, Wundersames und wundervolle Entwicklungen in der Meditation.

Paul Kohtes meditiert seit Jahrzehnten. Als Zen-Lehrer begleitet er Menschen, die ihrerseits das Meditieren lernen wollen, und nutzt dafür traditionelle und moderne Wege. So entwickelte Paul Kohtes 2014 gemeinsam mit den Studenten Jonas Leve und Manuel Ronnefeldt die Meditationsapp 7Mind, mit der Meditation und Achtsamkeit einfach(er) in den Alltag zu integrieren sein sollte. Ob es ein Wunder ist, dass dies heute deutschlandweit die Meditationsapp mit den meisten Downloads ist?

Ganz der Tradition des Zen verbunden, bietet Paul Kohtes aber auch sogenannte Sesshins an. Sesshins sind längere Übungszeiten, in denen Menschen sich in ein Kloster oder sehr ruhige Seminarhäuser zurückziehen, um sich dort jeden Tag viele Stunden in Meditation zu üben. Ähnlich vielleicht, wie sich Menschen im Leistungssport in intensive Trainingslager zurückziehen, nur dass in einem Sesshin die Geistes- und nicht die Muskelkraft trainiert wird.

Paul Kohtes hat hunderte solcher Sesshins geleitet. Auf dem Rückflug von einer solchen Veranstaltung erzählt er uns davon, welche Wunder er immer neu bei den Übenden erlebt. Und das, obwohl diese, unbeweglich auf dem Kissen sitzend, scheinbar nichts tun. „Ich muss sagen, da geschehen immer wieder Wunder“, sagt der Zen-Lehrer.

Wunder gab es nie. Noch nicht einmal damals, am Ufer bei Kafarnaum. Warum auch? Wir brauchen keine Wunder.

Dr. med. Dr. phil. Friederike Juen Boissevain MSc, Zen-Lehrerin

Vielleicht ist es an dieser Stelle noch einmal wichtig, auf das Wort „Wunder“ selbst zurückzukommen, das wir im Alltag sehr unscharf und nur sehr selten im lexikalischen Sinn benutzen. Die Zen-Lehrerin Friederike Boissevain spielt mit in unserem Weisheitsquartett und antwortet in dieser Ausgabe des Weisheitsjournals deshalb auf die Frage: „Kann man mit Wundern rechnen?“ Ihre Antwort ist eindeutig: „Wunder gab es noch nie. Warum auch? Wir brauchen keine Wunder.“

Paul Kohtes hingegen nutzt das Wort „Wunder“ für Wundersames. Also für etwas, „mit dem man wirklich nicht rechnen konnte. Etwas völlig Überraschendes, das ganz ungewöhnlich, ganz unerwartet auftritt.“ Solcherart Wunder geschehen gerade bei Sesshins immer wieder.

Das erste Wunder sei für die meisten die Stille, wenngleich es auch eine große Provokation sei, einfach mal nichts zu tun, still und einfach nur da zu sein.

Das zweite Wunder sei das Wunder der Erinnerung, sagt Kohtes: „Viele Menschen erinnern sich an Sachen, die völlig vergessen waren, und gelangen damit plötzlich zu neuen Erkenntnissen, die sie vorher niemals hatten und an die sie vielleicht nie geglaubt oder die sie nicht für möglich gehalten haben.“ Im Verlauf eines Sesshins ergebe sich so ein Wunder nach dem anderen. Menschen entdecken Dinge, die verloren gegangen waren oder können auf einmal Beziehungen völlig neu betrachten: „Das ist wirklich wunderbar“, schwärmt Paul Kohtes.

Und noch von einem dritten und letzten Wunder will Paul Kohtes berichten, am Ende eines Sesshins: „Wenn die Gesichter ganz andere sind als vorher“, das sei für ihn immer ein ganz persönliches Wunder.

Paul Kohtes ist auch Vorsitzender des Präsidiums der Stiftung West-Östliche Weisheit. Im Spektrum von west-östlicher Weisheit steht er als Zen-Lehrer für die östliche Weisheit. Die buddhistische Spiritualität geht letztlich auf Buddha zurück, so wie westliche Weisheit und christliche Spiritualität auf Jesus zurückgehen.

Was wissen wir über Wunder und Jesus und Buddha? An dieser Stelle soll (und kann) es nicht um die vielfältige, umfangreiche Forschung in den verschiedenen Wissenschaften – von der Theologie über die Naturwissenschaftlich bis zur Psychologie – in Bezug auf Wunder gehen. Natürlich nicht. An dieser Stelle können wir aber einem Forscherpaar über die Schulter schauen und einen spannenden Blick auf die Unterschiede in Sachen Wunder bei den beiden Religionsstiftern erhaschen.

Jesus, Buddha und die Wunder

Tworuschka, M., Tworuschka, U.

Die Wunder. In: Die großen Religionsstifter.

Das Forscherehepaar Monika und Udo Tworuschka hat über Wunder gearbeitet. Die Politik- und Religionswissenschaftlerin und der Religionswissenschaftler widmen in ihrem Buch „Die großen Religionsstifter“ den Wundern ein ganzes Kapitel (alle Zitate hier stammen daraus).

In diesem Kapitel kommt das Forscherehepaar schnell auf den Punkt: „Die Religionsstifter haben eine unterschiedliche Einstellung zum Wunder, nur Jesus sieht es positiv.“

Fangen wir mit der positiven Einstellung Jesu an: „Die Evangelien beschreiben Jesus als Wundertäter und Exorzisten. Er trieb Dämonen aus, heilte Kranke und Aussätzige, war in der Lage, auf dem Wasser zu gehen, verwandelte Wasser in Wein, machte Tausende mit wenigen Broten und Fischen satt.“

Christlich sozialisierten Menschen sind diese Wundertaten von Kindesbeinen an vertraut. Erkenntnisse darüber fasst das Forscherpaar Tworuschka zusammen: „Man hat Jesu Wunder klassifiziert und Exorzismen, Therapien, Normen-, Geschenk-, Rettungswunder und Epiphanien unterschieden.“ Und sie stellen fest: „Viele brachten ihre Kranken zu ihm, baten den ‚Rabbi‘, die Krankheitsdämonen zu vertreiben. Diese Wunderberichte von Dämonenaustreibungen und Heilungen spiegeln vermutlich ziemlich getreu das Wirken des historischen Jesus wider. Andere Wunder, zum Beispiel Naturwunder, Speisung- und Weinwunder usw., mögen auf nachösterliche Verklärungen zurückgehen.“

Dass diese Wunderberichte „vermutlich ziemlich getreu das Wirken des historischen Jesus widerspiegeln“, ruft bei Irene Tokarski Widerspruch hervor. Die katholische Theologin hat in Bolivien 20 Jahre mit der Methode Lectura popular de la Biblia gearbeitet und viel Erfahrung darin gewonnen, biblische Texte mit Menschen in sozial benachteiligten Kontexten zu lesen.

Irene Tokarski sagt: „Die Evangelien sind eine bunte Mischung aus den sogenannten Jesusworten, in denen sich Jesus durchaus kritisch gegenüber Wundern äußert, und den von der Urgemeinde überlieferten ‚Augenzeugenberichten‘. Diese Berichte legten viel Wert auf ‚echte Wunder´, um eindeutig zu zeigen, dass Jesus der erwartete Messias ist.“ Die Absicht der Wundererzählungen ist also theologisch, für die Bibel seien historische Berichte uninteressant. „Theologisch geht es immer darum, wie Jesus das Leben der Armen (und aller Menschen) real berührt – nicht um medizinische oder physikalische Aussagen.“

Übrigens gelte das heute genauso, denn „die Menschen, die ums Überleben kämpfen, fragen nicht nach historischen Beweisen, sondern danach, was sich in ihrem Leben real verändert."

“Das wahre Wunder besteht nicht darin auf dem Wasser zu gehen, sondern auf der Erde.”

Thich Nhat Hanh

Was auch immer sich wie genau im Einzelnen zugetragen hat, festzuhalten ist: Wunder spielen in den biblischen Erzählungen eine große und eben eine positive Rolle.

„Buddha stand Wundern kritisch gegenüber“, fasst das Forscherpaar hingegen Buddhas Standpunkt zusammen. Was nicht bedeutet, dass es keine Wunder gab: „Wie die Mönche besaß er einerseits ‚übermenschliche Phänomene‘, die sogenannten magischen iddhi-Kräfte („Zauberkraft, Pracht“), die nach Auffassung des Indologen Dieter Schlingloff „das Wesen des ältesten Buddhismus“ ausmachen“.

Buddhas Kritik richtet sich nach Monika und Udo Tworuschka eher dagegen, Menschen über Wunder zum Glauben zu bringen: „Die wunderkritische Einstellung Buddhas zeigt sich in seiner Reaktion auf den Wunsch des Bürgers Kevaddha, Buddha möge einen Mönch anweisen, ein Wunder zu tun, weil dann die Bewohner der Stadt an Buddha glauben würden. Buddha lehnt das Ansinnen mit dem Argument ab, dass äußere Wunder keinen echten Glauben an ihn erwecken würden. Die Ungläubigen würden ein solches Wunder allenfalls als Zauberei betrachten.“

Schließlich stellt das Forscherpaar fest: „Im Buddhismus unterscheidet man zwischen den ‚drei großen Ereignissen‘, nämlich Empfängnis, Geburt und großer Auszug, sowie den ‚drei großen Wundern‘ Erwachung, erste Predigt und Eingehen in das Nirvāna. Wunder sind hier keine „zeiträumlichen Begebenheiten […], sondern ausschließlich Vorgänge rein geistig-religiöser Art, die sich in der Tiefe der menschlichen Existenz vollziehen“. Das größte, einzig von Buddha anerkannte Wunder war das „Wunder der Lehre“.

Wenn der Buddha so wunderkritisch eingestellt war, wie passt das mit „Buddhas Tag der Wunder“ zusammen, den der tibetische Buddhismus kennt und der im Frühjahr begangen wird?

Auf diesen Tag angesprochen, antwortet der Meditationslehrer Yesche Udo Regel erst einmal mit einem Zitat von Thich Nhat Hanh: “Das wahre Wunder besteht nicht darin auf dem Wasser zu gehen, sondern auf der Erde.”

Weiter schreibt er im schriftlichen Interview: „Wenn buddhistische Meister*innen vermeintliche Wunder demonstrieren, dann eigentlich nur, um zu zeigen wie unwirklich die gewöhnlichen Erlebnismodalitäten sind. Aber auch die eventuell gezeigten Wunder sind dann nur Spiegel des Spiels der Illusionen.“

Wunder kommt von wundern

Der buddhistische Meditationslehrer Yesche Udo Regel lenkt unseren Blick nicht nur vom Wunder zum Spiegel des Spiels der Illusionen. Er verweist uns auch auf den Sinn für das Wunderbare im Gewöhnlichen.

„So gibt es im Buddhismus einen Sinn für das Wunderbare im Gewöhnlichen, wenn die Schleier konzeptueller Verwirrung und geistiger Verblendung gelichtet sind. Die absolute Realität der illusionsgleichen Natur aller Erscheinungen und die relative Wirklichkeit von Ursache, Wirkung und abhängigem Entstehen sind kongruent, sodass das ‚Wunderbare‘ immer dann gesehen werden kann, wenn das gewohnheitsmäßige Erleben und konzeptuelle Denken Risse bekommt oder transzendiert wird.“

Wenn wir aber das Wunderbare vor allem oder sogar immer dann sehen können, wenn unser Geist aus dem Tritt seiner Gewohnheiten kommt und durch eben diese Risse in der Gewohnheit das Wunder scheinen kann, dann kommen sich der Anfang und das Ziel dieses Artikels nah, dann nähren wir die These, dass Wunder von wundern kommt.   

So betrachtet, macht unsere weise Katze Sophia ja vielleicht alles richtig, wenn sie sich die Wunder in den Kalender einträgt. Wenn Wunder von wundern kommt, dann ist „sich wundern“ nicht nur grammatikalisch eine Verbform, sondern etwas Aktives, etwas, das man tut. Und: Tut man es nicht, findet es nicht statt. Zähne werden ja auch nicht von allein sauber, sondern nur, wenn man sie putzt. Mindestens zweimal am Tag. Und wer weiß, vielleicht kommen uns die Wunder in unserem Leben schon näher, wenn wir uns zweimal am Tag wundern. Einfach so. Weil die Welt und das Leben so wundersam sind. Weil es so unwahrscheinlich ist, dass passiert, was passiert. Und doch passiert. Dass wir jeden Morgen neu die Augen aufschlagen und unser Leben so vorfinden, wie wir es abends beim Einschlafen eine Nacht lang sich selbst überlassen haben. Und dann finden wir das jeden Morgen auch nicht nur kein Wunder, sondern einfach selbstverständlich!

Das Wundern und das Staunen kultiviert hat zeitlebens der österreichisch-US-amerikanische Benediktinermönch David Steindl-Rast. Millionen Menschen hat der Eremit, spirituelle Lehrer und weltweit tätige Vortragsreisende inspiriert, es ihm gleich zu tun. Treffend zum Ausdruck kommt seine Haltung in einem millionenfach angesehenen YouTube-Video, das vor 15 Jahren erschien und von dem es mittlerweile einige Ausgaben gibt.

Brother David Steindl Rast. A good day.

Mit diesem Video reißt Bruder David uns aus unserem Alltagstrott und der Überzeugung, dass dieser Tag heute einfach nur ein weiterer Tag unseres Lebens sei, an dem wir zufällig gerade online sind und diese Zeilen in diesem Artikel lesen. Nein, sagt Bruder David. So sei es nicht.

Dieser Tag sei der einzige Tag, der uns heute geschenkt sei. Das einzige Geschenk, das wir heute haben. Wenn wir das nur verstünden, dann würde uns klar, dass die einzige adäquate Art, dieses Geschenk anzunehmen ist, so zu leben, als sei heute unser erster oder unser letzter Tag im Leben. So zu leben aber führt zu einer einzigen Abfolge von Überraschungen und freudigen Momenten: dass wir Augen haben, die wir öffnen können; dass wir Farben, den Himmel sehen.

Wenn es uns gelingt, auf diese Weise zu schauen, sehen wir, dass der Himmel und die Wolken nie gleich sind, dass das Wetter nie gleich ist. Dass jedes Gesicht eine Geschichte erzählt, nicht nur vom eigenen Leben, sondern zugleich von allen Vorfahren und ihren Geschichten. Wenn wir so durch den Tag gehen und Geschenk um Geschenk um Geschenk entdecken, würdigen und durch uns hindurchfließen lassen – dann würden wir selbst zum Geschenk, zum Segen. Und jeder Tag würde ein wirklich guter Tag. Für uns. Und alle anderen auch.

Die Gretchenfrage: Warum sich das Wundern lohnt

Das Staunen über das Geschenk zum Leben führt also zu einem Leben voller Segen und voller guter Tage. Ein Gedanke, in dem sich Spiritualität und Wissenschaft begegnen.

Denn falls wir uns im Wundern üben wollen sollten, sind wir wissenschaftlich in bester Gesellschaft. Geisteswissenschaftlich gesehen stehen wir dann in der Philosophie, über die Jostein Gaarder in seinem Weltbestseller „Sofies Welt“ seinen Protagonisten sagen lässt: „Habe ich schon gesagt, dass die Fähigkeit, uns zu wundern, das Einzige ist, was wir brauchen, um gute Philosophen zu werden?“

Auch in der Naturwissenschaft hat das Wundern einen guten Leumund. Die letzte Frage im Interview, die Gretchenfrage in diesem Thema, warum sich das Wundern denn nun lohne, beantwortet Ranga Yogeshwar so: „Weil es das vielleicht größte Geschenk ist, das wir bekommen haben. Also das Leben selbst. Sich dessen gewahr zu werden, also sich an der Stelle bewusst zu machen, welch großartiges Glück das in diesem Moment ist, wo man lebt, dass man überhaupt lebt, das ist mehr als genug.“

Die Autorin
Angela Krumpen

Radiojournalistin, Autorin, Moderatorin und Kolumnistin.

Als Autorin reist sie zu Menschen, die die Welt nicht einfach hinnehmen wollen, erzählt von Solidarität in den Armenvierteln Chiles, von rettender Musik im Holocaust und von Versöhnung im Völkermord.

www.angela-krumpen.de

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