Weisheits-Journal 02 2023

Weisheits-Journal 02 2023

Weisheits-Journal

Ausgabe 02/2023

Von aufrechter Haltung und würdigen Lösungen

Instinktiv haben wir alle ein Gefühl für Würde. Sehr genau wissen wir auch, wann und warum sie verloren geht, präziser: Wo wir sie beschädigen. Das passiert im Großen auf schiffbrüchigen Booten im Mittelmeer und im Kleinen, wenn wir unsere Kinder anschreien. Aber ist uns auch klar, dass wir in beiden Fällen auch unsere eigene Würde beschädigen?

Dass Würde unteilbar ist – darum geht es in dieser Ausgabe: Würde ist (k)ein Konjunktiv. Sie finden Antworten aus dem Zen und aus der Kunst, es geht um aufrechte Haltung und um aufrichtige auch. Unser weises Quartett geht der Frage nach, was hilft, damit Würde kein Konjunktiv bleibt. Und wenn sie bei so viel würdigem Ernst ein Lächeln suchen, dann schauen Sie bei Sophia vorbei.

Weisheits-Quartett

Das Weisheitsquartett spielt im großen Feld von Meditation und Wissenschaft. Wir stellen vier ganz unterschiedlichen Menschen aus diesem Feld Fragen, die uns alle angehen. Und wir sind jedes Mal aufs Neue gespannt, wie unterschiedlich Weisheit antworten kann.

Was hilft, damit Würde kein Konjunktiv bleibt?

Alexandra Huss, Jürgen Eschner, Gerhard Bader und Friederike Boissevain antworten.

Alexandra Huss

Foto @ Martina Thalhofer

„Wenn wir aber von einem Leben in Würde und einem Leben in Glück sprechen, gehört es für mich unabdingbar dazu: den eigenen Körper eben auch den eigenen Körper nennen zu dürfen und nicht ein Nahrungsmittel für andere, über dessen Leben und Sterben diese anderen entscheiden.“

Ich möchte die Frage nach einem Leben in Würde für den Menschen gerne erweitern um die Frage nach einem würdevollen Leben für alle Lebewesen auf dieser Erde, einschließlich Tiere, Natur und Erde. Auf dem veganen Lebenshof, auf dem ich lebe und arbeite, bin ich oft mit der Missachtung von Würde konfrontiert.

Beispielsweise werden den Schweinen drei bis fünf Rippenbögen hinzugezüchtet, damit sie mehr Fleisch tragen. Die Tiere sind in einem Körper gefangen, der auf Nutzen ausgerichtet ist. Was bei den Schweinen das Fleisch ist, sind bei den Hühnern die Eier und bei den Kühen die Milch. Die Tiere können sich nicht ausleben und ausdrücken, sie können nicht auf den Weiden tollen, ihre gezüchteten Körper bereiten ihnen Schmerzen und auch ihre Sexualität wird ihnen verwehrt.

Wenn wir aber von einem Leben in Würde und einem Leben in Glück sprechen, gehört es für mich unabdingbar dazu: den eigenen Körper eben auch den eigenen Körper nennen zu dürfen und nicht ein Nahrungsmittel für andere, über dessen Leben und Sterben diese anderen entscheiden.

Alexandra Huss übt seit einigen Jahren Zen. Gerade hat sie ihre Ausbildung als Schauspielerin mit einem Bachelor abgeschlossen. Zuvor hat sie zwei Semester Philosophie studiert. Heute lebt sie in der Schweiz auf einem Hof für vegane Landwirtschaft.

Jürgen Eschner

Foto @ Oliver Dietze

„Vernunft und Gewissen verleihen Würde; Wissenschaft und Mut können Sie zur Wirklichkeit machen.“

Wissenschaft erforscht und beschreibt die Lebensbedingungen des Menschen und macht diesen unabhängig, z. B. vom Aberglauben. Sie ist Ausdruck der Vernunft und verleiht so dem Menschen Würde.

Viel zu häufig erkennt man es leider am Gegenteil: Strukturen, in denen den Menschen ihre Würde nicht gewährt oder sogar genommen wird, gehen einher mit nichtwissenschaftlichen Narrativen, z. B. bezüglich Evolution, Geschichte, Naturvorgängen, Krankheit und Heilung oder Rassenunterschieden. Wird Menschen die Einsicht in ihre Lebensumstände genommen, nimmt man ihnen auch die Möglichkeit, diese zu verändern.

Was kann nun die Wissenschaft tun? Der direkte Einfluss ist begrenzt, wenn gesicherte Evidenz, Kritik und Bildung durch totalitäre Machtstrukturen oder interessengeleitete Medien oder auch nur Bequemlichkeit unterdrückt werden. Denn die Wissenschaft entspringt zwar der Vernunft, aber Würde erfordert auch das Gewissen des Einzelnen und von Vorbildern der Gesellschaft.

Deswegen aber darf Wissenschaft nicht schweigen, sie muss vorurteilsfrei erklären, beraten, warnen, kritisieren, streiten. Wissenschaft und Mut zusammen können Würde zur Wirklichkeit machen.

Prof. Dr. Jürgen Eschner, Physik, Universität Saarland, Die experimentelle Forschung von Jürgen Eschner und seinen Mitarbeitern widmet sich der kontrollierten Wechselwirkung zwischen Licht und Materie im quantenmechanischen Bereich.

Gerhard Bader

Foto @ Thomas Appel

„Im Versuch, nicht Trennendes, sondern Gemeinsames anzunehmen, geschieht Würde als geteilte Wirklichkeit von alleine (ehrlicherweise manchmal besser, manchmal schlechter).“

Um ehrlich zu sein, habe ich mich bisher nicht viel mit (dem Konjunktiv) Würde beschäftigt bzw. darüber nachgedacht. In meiner beruflichen Rolle und somit als Mensch / mit meiner „Persona“ kommt immer gleichzeitig meine innere Einstellung zum Vorschein, die in meinem Fall sehr durch Willigis Jäger geprägt wurde.

Seine Metapher: „Die Welle ist das Meer“ oder noch dichter ausgedrückt: „Das Meer ist die Welle“ als Bild der Verbundenheit, eher sogar der Nicht-Zweiheit ist für mich Handlungsmaxime. Dabei lassen sich wiederum Firmenrolle oder Familie oder Alltag nicht trennen. Die Handlungsmaxime gilt allgemein und ist somit übrigens auch z. B. auf Tiere anwendbar und spiegelt sich bei uns am Benediktushof in der vegan-vegetarischen Verpflegung wider.

Im Versuch, nicht Trennendes, sondern Gemeinsames anzunehmen, geschieht Würde als geteilte Wirklichkeit von allein (ehrlicherweise manchmal besser, manchmal schlechter). Das versuchen meine Kolleg:innen und ich auch im Umgang mit Kursteilnehmenden und Kursleitenden zu praktizieren. Und hoffentlich schlägt sich das in authentischer Wertschätzung, Klarheit und dem Versuch nieder: hinter dem vermeintlich Trennenden der verschiedenen Personen auch das Verbundsein zu leben.

Gerhard Bader ist der Geschäftsführer des Benediktushofes in Holzkirchen, einem Zentrum für Meditation und Achtsamkeit in den Gebäuden eines ehemaligen Benediktinerklosters aus dem 8. Jahrhundert. Der studierte Wirtschafts-Ingenieur meditiert seit vielen Jahren.

Friederike Boissevain

Foto @ privat

„Würde muss man gießen.“

Würde ist wie das Gemälde von Dürers Wiesenblumen: fast unsichtbar, allgegenwärtig, untrennbar, zeitlos. Würde ist auch ein Aufruf: Wie verleihe ich ihr lebenslang Ausdruck? Wie bezeuge ich durch meine Praxis diesen Grundbestandteil allen Seins?

Wenn nichts mehr bleibt, wenn nichts mehr schön ist, wenn alle Attribute, aus denen ich meine Identität zusammengebaut habe, verschwunden sind, wo ist dann die Würde? Würde ist ein Duft, der in Widrigkeiten Strahlkraft und Rückhalt für uns entfalten kann. Als Praktizierende in einer erschöpften Gesellschaft ist es unsere Pflicht, uns um die Würde zu kümmern. Sie verbindet uns mit dem, was war, und mit dem, was kommen wird. Würde ist eine Grundfarbe des gegenwärtigen Augenblicks.

Für das Sichtbarwerden der Würde sind keine Heldentaten nötig. Wir verleihen ihr Ausdruck durch unser Zazen, durch das Richten der Schuhe im Eingang, durch unsere Einladung der 10 000 Dinge in jeden unserer Atemzüge.

Dr. med. Dr. phil. Friederike Juen Boissevain MSc, Zen-Lehrerin in der Soto-Zen Tradition von Shunryu Suzuki. Sie ist Ärztin für Innere Medizin, Krebserkrankungen und Palliativmedizin, Vorsitzende eines ambulanten Hospizdienstes und Geschäftsführerin eines stationären Hospizes.

Weisheits-Talk

Zu jeder Ausgabe gibt es einen Online- Weisheitstalk. Hier können Sie sich online zuschalten und sich zu den Themen der Ausgabe austauschen. Nach jedem Talk stellen wir das Video hier zur Verfügung.

Helge Burggrabe: Von Kunst, Kontemplation und Würde

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