Weisheits-Journal
Ausgabe
Würde ist (k)ein Konjunktiv
Von aufrechter Haltung und würdigen Lösungen.
von Angela Krumpen
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Dieser Satz strahlt seit 75 Jahren in Artikel 1 über der Menschenrechtscharta. Ein Meilenstein der Menschheit. Aber für die Mehrheit doch nur ein Konjunktiv. Lässt sich das ändern? Wenn ja, wodurch? Können Meditation und spiritueller Weg einen Beitrag leisten? Oder die Kunst? Spielt es eine Rolle, wie würdig wir uns selbst finden? Und: Müsste es im 21. Jahrhundert nicht eigentlich um alle Lebewesen gehen, also nicht nur um uns Menschen?
Kurzum: Mehr Würde für alle, wie geht das? Würdig nach Lösungen zu suchen, wäre ein Anfang. Et voilà, ein Versuch.
Das erwartet Sie im Artikel
Plötzlich Bettelkinder
Würde, die
1.
Achtung gebietender Wert, der einem Menschen innewohnt, und die ihm deswegen zukommende Bedeutung
2.
Bewusstsein des eigenen Wertes [und dadurch bestimmte Haltung]
Quelle: Duden
„Es waren einmal Königskinder, sie lebten in einem wunderschönen Schloss und es fehlte ihnen an nichts. Nachts schliefen sie in kühlender Seide, tagsüber aßen sie köstliche Speisen und alle Wünsche wurden ihnen von den Augen abgelesen. Bald aber langweilten sich die Königskinder doch ein bisschen. Sie liefen weg, probierten das Betteln aus und vergaßen darüber alles andere. Natürlich ließ die verzweifelte königliche Familie ihre Kinder im ganzen Land suchen. Einer Amme gelang es schließlich: Trotz Staub und Dreck und Lumpen erkannte sie die Kinder. Doch es war zu spät: Unterdessen waren die Kinder überzeugt, dass sie von jeher Bettelkinder gewesen waren, auf die Straße gehörten und sie einem Leben im Schloss unwürdig seien.“
In ihren Kursen erzählt die Berliner Wendotrainerin, Yoga- und Meditationslehrerin Nives Bercht oft diese Geschichte von den Bettel- und den Königskindern. Die Faszination, die diese Erzählung auf sie ausübt, hat für Nives Bercht viel damit zu tun, für wen die Amme in dieser Parabel eigentlich steht und warum das so viel mit Würde zu tun hat. Aber verlassen wir an dieser Stelle die Geschichte, die aus einer Zeit stammt, in der niemand infrage stellte, dass manche Kinder ihr Leben in Schlössern verbrachten und andere auf der Straße.
Heute ist das anders. Spätestens seit dem 10. Dezember 1948.
Ein Hauch von Ewigkeit
Am 10. Dezember 1948 wurde im Palais de Chaillot in Paris die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die sogenannte Menschenrechtscharta, unterzeichnet. 30 Artikel zu den Rechten, die ausnahmslos jedem Menschen „ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand“ zustehen.
Gleich im nächsten Abschnitt der Präambel steht, warum es dieser Erklärung bedarf: „da die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen“.
Wenn der Menschheit ein kollektives Gewissen attestiert wird, setzt das jedoch voraus, dass sich Menschen aus allen Nationen der Welt einig sind, was recht und was unrecht ist. In diesem Fall waren sie sich so eindeutig einig über das Unrecht, über das unermessliche Leid, welches das brutale Regime der Nationalsozialisten buchstäblich über die ganze Welt brachte, dass solcher Barbarei ein für alle Mal ein Riegel vorgeschoben werden sollte. Ein Siegeszug der Würde.
Sie zieht dann auch ins Grundgesetz der jungen Bundesrepublik Deutschland in Artikel 1 ein. Doch vielleicht, weil es an dem Ort entsteht, an dem die Würde so schändlich mit Füßen getreten wurde, gehen die Mütter und Väter des Grundgesetzes noch einen Schritt weiter und stärken die Würde zusätzlich durch die sogenannte Ewigkeitsklausel, die besagt, dass dieses Gesetz nie wieder geändert werden darf. In Artikel 79, Absatz 3 heißt es: „Eine Änderung dieses Grundgesetzes (…) ist unzulässig.“
Den lesenswerten Essay finden Sie hier:
Ob in der Menschenrechtscharta oder dem Grundgesetz: Die Menschenwürde wird in Menschenrechten beschrieben und soll durch Gesetze geschützt werden. Wird eines dieser Rechte verletzt, wird auch die Würde verletzt. Diesen Zusammenhang vertieft ein Essay von Hannah Bleher. Sie forscht als Wissenschaftlerin für systematische Theologie an der Universität Bonn gemeinsam mit einem interdisziplinären Team zur Ethik der Digitalisierung und KI.
Doch wie das so ist: Trotz Ewigkeitsklausel ist die Würde nie ein für alle Mal und schon gar nicht für die Ewigkeit klar definiert. Was sie für wen in welchem Moment eigentlich genau bedeutet, bleibt eine Herausforderung, bleibt unsere Aufgabe. Gesellschaftlich und individuell, wie die Arbeit von Dr. Anna Gamma, Unternehmerin, Psychologin und Zen-Meisterin, zeigt.
Anna Gamma: Würde ist unteilbar
Anna Gamma hat gleich ein ganzes Buch über die Würde geschrieben: Die Macht der Würde. Sie nimmt sich Zeit für ein Interview über das, was sie über die Macht, über die Würde und die Verbindung von beidem herausgefunden hat.
Ein Buch ist ein Format für gründliches Nachdenken. Dass Anna Gamma über die Würde nachdenken wollte, hat – ausgerechnet – in einer Erfahrung von Verachtung ihren Grund: „Alle meine Bücher haben etwas mit meiner Biografie zu tun. Der letzte Impuls dazu kam durch die Erkenntnis, dass ich eine Seite habe, die Menschen verachtet. Männer wie Frauen. Das hat mich aufgewühlt und es brauchte eine Zeit.“
Für niemanden ist es leicht, den eigenen Schatten anzusehen, geschweige denn, mit ihm umzugehen. Anna Gamma hat sich dafür ein Werkzeug geschaffen: „Ich habe eine Leitlinie: nicht gegen den Fehler kämpfen, sondern für das Fehlende da sein. Deswegen habe ich nach dem Fehlenden gesucht. Was ist der Gegenpol zur Verachtung? Und dann bin ich bei der Würde gelandet.“
Mit der Anwendung ihrer Leitlinie macht Anna Gamma gute Erfahrungen, so erinnert sie sich an die konkreten Situationen: „Ich habe die Frauen verachtet, die immer nur gedient haben. Als ich das gemerkt habe, dass ich sie verachte, habe ich umgestellt und innerlich den Frauen ihre existenzielle Würde zugesprochen und mich mit ihnen verbunden. Dabei ist eigentlich nicht die Würde so zentral, sondern es geht um meine Unfähigkeit zu lieben.“ Die Sache ist gut ausgegangen, am Ende gab es eine ganz neue Wertschätzung von Anna Gamma gegenüber den Frauen.
Die Beschäftigung mit dem Thema Würde ging für sie noch weiter, respektive tiefer: „Ich habe gemerkt, dass das Thema der Würde tiefere Wurzeln in meiner Biografie hat.“ Diese liegen u. a. in ihrer Beschäftigung mit dem Zweiten Weltkrieg und in den sogenannten Peace Camps, die die Psychologin und Zen-Meisterin während und nach dem Balkankrieg leitete. Zu den Camps eingeladen waren junge Menschen aus verschiedenen Ethnien, die im Krieg auch selbst gekämpft hatten:
„Krieg ist der schlimmste gesellschaftliche Zustand, der Würde nimmt. Soldaten haben gesagt: Wenn ich lerne, Menschen zu töten, töte ich etwas in mir selbst. Im Töten wird der andere zu einer Ware.“
Wenn unsere Frage also ist, wie es mehr Würde für alle geben kann, gilt es an dieser Stelle festzuhalten, dass Würde unteilbar ist und in immer gleicher Weise alle Menschen zugleich betrifft. Es gibt nicht hier die Täter:in, die oder der „nur“ dort dem Opfer ihre oder seine Würde nimmt, sondern er oder sie nimmt sie sich selbst, verliert zeitgleich seine eigene Würde.
In ihrem Buch Die Macht der Würde geht Anna Gamma in Bezug auf diese Unteilbarkeit noch einen Schritt weiter: „Wir werden unmittelbar die Unteilbarkeit der Würde erfahren: Wer sie in anderen Menschen verletzt, verletzt seine eigene Würde. Das Gegenteil gilt ebenso: Wer die Heiligkeit der Würde in sich selbst erfährt, erkennt sie auch in jedem anderen Menschen, egal welches Gesicht sich uns zeigt. Es wird zum Bedürfnis, Würde überall zu finden und anzusprechen, auch dort, wo sie mit Füßen getreten wird.“ Halten wir mit Blick auf unsere Frage fest: Würde, einmal in uns selbst erkannt, lässt uns sie überall entdecken und für sie eintreten.
Klingt eigentlich ganz einfach – wäre da nicht die kleine Voraussetzung, dass wir sie eben zuvor erkennen müssen. Ganz praktisch: Wie geht das? Für Anna Gamma ist klar: „Zuerst brauchen wir den Blick von anderen Menschen, der uns nicht schubladisiert, sondern im Gegenüber ein Geheimnis wahrnimmt, ein Wunder. Das Schubladisieren geht leider automatisch, auch bei mir selbst. Aber die Menschen merken, dass wir das tun. Um das zu ändern, müssen wir unsere Haltung ändern. Nicht: Ich habe Würde, sondern Ich bin Würde. Was ich habe, kann mir genommen werden. Aber was ich bin, kann mir niemand nehmen.“
Zentral für das Mehren von Würde in der Welt scheint also unsere Haltung zu sein – ein Wort mit vielen Bedeutungen, im wörtlichen und im übertragenen Sinn. Ein Wort, das unsere Sprache oft mit einem weiteren Begriff, nämlich „aufrecht“ verbindet. Ein „aufrechter Mensch“ ist dabei schon wieder doppeldeutig, steht ebenso für den aufgerichteten wie für den aufrichtigen Menschen.
Portale mit Tipps für Karriere, Werbung für Pilates oder einfach nur die Apothekenumschau – das Internet ist voller Artikel über den Zusammenhang von (Körper-)Haltung und innerer Haltung, von Aufgerichtet-Sein und Respekt und Würde. Aufrecht zu sitzen wird uns aber nicht nur für Vorstellungsgespräche empfohlen, sondern auch in der Meditation. Im Vorstellungsgespräch gibt es vielleicht einen tollen Job zu ergattern. Aber was gibt es durch korrektes, stundenlanges, oft schmerzvolles Sitzen auf dem Kissen zu gewinnen?
Friederike Boissevain: Eine Haltung der Würde
Dr. Dr. Friederike Juen Boissevain MSc ist Zen-Lehrerin in der Soto-Zen-Tradition von Shunryu Suzuki. Und sie ist Ärztin für Innere Medizin, Krebserkrankungen und Palliativmedizin. Für sie ist die aufrechte Sitzhaltung in der Meditation sehr wichtig: „Jede spirituelle Praxis beginnt mit dem Körper. Ob in der Benediktsregel oder in Dogen Zenjis Fukanzazengi – die Meister der Vergangenheit wurden nicht müde, dies zu betonen. Das gilt auch für das (weiße) Zen des Westens, das intellektuell gewichtet wirken kann, sowie für die Koan-Praxis, die zunächst eine Körperpraxis auf den ersten Ebenen ist. Die Meditationshaltung ist Dreh- und Angelpunkt der Zen-Übung.“
Friederike Boissevain macht vor allem zwei Faktoren aus, durch die sich eine formelle Sitzpraxis auf unser Leben auswirkt. Da ist einerseits die Beschränkung: „Durch das Festlegen einer gemeinsamen Form als Container kann eine geistige Klarheit befördert werden, die sich auch jenseits des Zendos auswirken wird.“ Und andererseits die Gemeinschaft: „Wir üben in Gemeinschaft. Jeder und jede für sich, alle mit allen gemeinsam. Es gibt kaum eine beglückendere, schonungslosere und zugleich effektivere Art, eine der Grundfesten der Zen-Praxis fühlbar werden zu lassen: Wir sind alle völlig verschieden. Wir gleichen einander sehr. Beides parallel halten zu können, wird durch das formelle Üben unterstützt.“ In einer formellen Haltung zu üben kann sich also positiv auf die Gesellschaft auswirken. Einfach, weil wir hierin erfahren, dass wir grundlegend verschieden und grundlegend gleich sind. Aber auch bezogen auf unser Thema, das Mehren von Würde in der Welt, wirkt sich die Zen-Haltung unmittelbar aus, davon ist Friederike Boissevain überzeugt: „Die Haltung – die Körperhaltung – im Zen ist eine Haltung der Würde. Aufrecht, klar, einfach, präsent höre ich zu, lausche dem, was ist. Dabei ist es gleich, ob ich gerade beginne oder bereits 40 Jahre lang übe. So wie für Dogen in dem Kapitel ,Gyoji´ das Erwachen und das Streben danach dasselbe ist, so bin ich mit dem Einnehmen der Meditationshaltung bereits angekommen.“
Wer praktiziert, sagt Friederike Boissevain, gehe zunächst meist vom Kopf aus und hoffe, dass in der Folge sich quasi automatisch körperliche Spannungen lösen. Doch eigentlich sei es genau andersherum: „Die Zen-Praxis ruft uns auch dazu auf, umgekehrt zu denken: Ein freier Atemfluss macht einen freien Kopf, eine aufrechte Haltung erlaubt es, mehr mit den Sinnen zu leben, was wiederum einen größeren Erfahrungs- und Erkenntnisreichtum mit sich bringt, der sich positiv auf unsere kopflastigen ‚Verwringungen‘ auswirken wird.“
Wenn es um den Zusammenhang von Haltung und Aufrichtung geht, drängt sich neben der Zen-Praxis noch eine ganz andere Disziplin auf. Denn nur wenig verhilft so konsequent zu einer aufrechten Haltung wie das Ballett. Und der Tanz.
Viel Erfahrung mit der Aufrichtung von Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen hat der berühmte britische Choreograf Royston Maldoom gemacht, unter anderem bei: „Rhythm is it“ mit den Berliner Symphonikern. Er sagt über seine Arbeit: „Tanz soll die Jugendlichen lehren, aufrecht zu stehen und andere zu stützen.“
Der Tanz bringt uns zur Kunst. Und zu dem Künstler, Komponisten und Kontemplationslehrer Helge Burggrabe.
Helge Burggrabe: Eine Hommage an die Menschenrechte
HUMAN – European Culture Project
Eine kreative Hommage an die Menschenrechte
Helge Burggrabe ist über den Buddhismus und seine Musik zur christlichen Mystik und christlichen Kontemplation gekommen. Seine Erfahrungen und Einsichten stellt er in seiner vielfältigen Arbeit zur Verfügung, erzählt in seinen Oratorien in Text und Klang vom Himmel und der Erde, von Licht und Finsternis. Seit vielen Jahren bietet er meist zwei Jahre zuvor ausgebuchte, kontemplative Reisen nach Chartres an oder singt mit Hunderten von Menschen meditative Lieder in den großen Kirchen und Kathedralen Europas.
Welche Formen seine Arbeiten jeweils annehmen, liegt natürlich auch daran, welche Ereignisse ihn zu neuer Musik inspirieren. Eine ganz eigene Form hat die Musik bekommen, die Helge Burggrabe als Reaktion auf den Anschlag im November 2015 im Pariser Konzertsaal Bataclan komponierte. Dass dieser Anschlag zum Ausgangspunkt ganz neuer Musik wurde, hat mit dem Brüsseler Viertel Molenbeek zu tun, aus dem die meisten Attentäter stammten: „In den dunkelsten Momenten ist die Sehnsucht nach dem Licht am größten. Dann ist die Sehnsucht am größten: Wie können wir unser Leben so gestalten, dass das nie wieder möglich ist? Weil die meisten Attentäter vom Bataclan aus Molenbeek kamen, ist dieses Viertel so in Verruf geraten, dass ein Generalverdacht auf vor allem junge Menschen aus dieser Gegend fiel, sodass diese wiederum ihre Würde verloren. Und so führen wir dieses Drama im Grunde genommen immer wieder von Neuem auf.“
Wegen dieses Generalverdachtes sandten vor allem engagierte Schulen laute Hilferufe aus Molenbeek, von denen Helge Burggrabe sich anrühren und inspirieren ließ. „Die Schulen, die mich dort anfragten, hatten einen großen Wunsch. Sie wollten zeigen, dass es in ihrem Viertel in all der Unterschiedlichkeit der 45 Nationen, die dort leben, möglich ist, gemeinschaftlich zu leben. Mir kam das wie ein Brennspiegel vor für das Leben in Städten und Gemeinden, in Europa und global. Anscheinend müssen wir es immer neu buchstabieren. Es gab ja noch nie so viele Flüchtlinge wie jetzt, so viele kriegerische Auseinandersetzungen. Wir müssen eine Lösung für ein anderes, würdevolleres Miteinander finden.“
Aus diesem Impuls entstand das Projekt Human, ein Kultur- und Tanzprojekt über Menschenrechte. Burggrabe: „Human behandelt das Leben an sich. Ich habe mich gefragt: Was ist unverhandelbar? Egal, ob man in China, in einem muslimischen Land oder hier in Europa oder Afrika aufwächst, was ist essenziell und unverhandelbar? Was brauchen wir als Menschen, um in Gemeinschaft zu leben und diesen großen Bogen von der Geburt bis dass wir sterben werden, gut und in Frieden miteinander leben können?“
Helge Burggrabe hat für Human die 30 Artikel der Menschenrechtscharta verdichtet. Geleitet hat ihn dabei unser Thema, die Würde. „Die Würde ist der rote Faden. Wenn wir es schaffen, Freiheit, Schutz, Heimat usw. für uns selbst und für andere zu realisieren, dann haben wir in ein würdevolles Leben. Also wenn ich es schaffe, dem anderen zuzugestehen, was ich mir für mich selbst wünsche, dann lebe ich in Würde und der oder die andere auch.“
So weit, so schön. Aber nun ist das hier kein abstrakter Artikel über Würde, sondern eine konkrete Suche nach mehr Würde für alle. Kann die Kunst, kann Human in diesem Fall auch für mehr Würde sorgen? „Unbedingt. Im Grunde genommen wissen wir alles, es gibt Bücher, Abhandlungen, wir wissen, wie wir besser leben könnten, wie es besser gehen könnte mit uns Menschen und der Natur. Der wichtige Schritt ist jetzt, die Erfahrung, das wirkliche Tun. Deswegen ist, wenn das Human-Projekt in die Schulen geht, die Kunst so wichtig. Also nicht mehr nur darüber zu reden, sondern diese Selbstwirksamkeit zu erleben, indem man selbst etwas auf die Bühne bringt.“
Wobei der Prozess selbst schon zu mehr Würde führen kann, sagt Burggrabe: „So ein Stück als Tanz, als Musik, als Orchesterprojekt auf die Bühne zu bringen, schon dadurch buchstabieren wir diese Themen. Können alle Fähigkeiten gesehen werden und kann jede und jeder Beteiligte mitnehmen, dass jeder Teil von etwas Größerem wird? Also es ist eine Umsetzung dieser zunächst abstrakten Menschenrechte. Und das ist das Wichtige.“
Eine Sache ist Helge Burggrabe im Lauf der Projektarbeit zu Human aufgefallen. So wichtig Rechte sind, damit allein kommen wir auch nicht weiter:
„Was ich als Künstler mit Kunstformen beitragen kann ist, die Würde des anderen tatsächlich als Haltung zu leben. Und nicht nur, das als Recht einzufordern.“
Helge Burggrabe kommt über die Kunst und den Impuls, in seinem europaweiten Schulprojekt die Menschenrechte tanzbar, also erlebbar zu machen, zu dem Schluss: Wenn es uns ernst ist mit der Würde und der Welt, haben wir nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten.
Manfred Rosen: Würde weist den Weg
Würde und spiritueller Weg sind nicht zu trennen
Neben der eigenen ist die auch Würde der anderen ein wichtiger Fokus von Zen-Meister und Traumatherapeut Manfred Rosen: „Weil ich auf dem spirituellen Weg erlebt habe, dass Würde ein universeller Wert ist.“ Allerdings sei das durchaus ein Lernprozess, der immer weiter andauere, eine einfache „Bedienungsanleitung“ für mehr Würde hat auch Manfred Rosen nicht im Gepäck: „Wir sagen ja immer so einfach, auf dem spirituellen Weg erfahren wir, was zu tun ist. Aber was heißt das denn konkret?“
Ein Aspekt ist für ihn dabei die Frage, wie wir der Würde des Lebens eben ganz konkret gerecht werden: „Es geht immer darum, wie ich aus einer allgemeinen, grundlegenden Erfahrung eine konkrete Alltagsentscheidung ableite und treffe. Wie funktioniert das? Letzten Endes ist so eine Lösung nie kollektiv sinnvoll, sondern muss vor allem individuell gefunden werden. Sie kann also nicht vorgegeben, sondern immer nur unmittelbar sein. Unmittelbar weiß dann der Einzelne, was zu tun ist, ohne dass eine Norm darübersteht, die dich verpflichtet, das zu tun. Und das, was zu tun ist, kommt immer aus dem Imperativ der Würde heraus.“
Für Manfred Rosen birgt der spirituelle Weg die Chance, „einen Beitrag zu leisten zu unserem Leben, der dieses Leben respektiert, fördert und mich befähigt, adäquat zu handeln“. Dieses Handeln sei nicht beliebig, das ist ihm wichtig, die Richtung sei durch die Würde, ihre Verletzung oder ihre Wiederherstellung vorgegeben. Mit den Stimmen, „die sagen, alle Weltverbesserungsversuche seien zum Scheitern verurteilt“, ist Manfred Rosen ausdrücklich nicht einverstanden:
„Ich denke schon, wir können jeden Tag durch unsere Entscheidungen, durch unser Verhalten die Welt insoweit ein bisschen besser machen, indem wir die Würde jedes Einzelnen in dem Feld, in dem wir gerade tätig sind, respektieren.“
In der Summe ist für ihn Würde und spiritueller Weg nicht zu trennen: „Wenn ich in meinen Kursen versuche, Menschen jeden Alters einen Weg aufzuzeigen, Spiritualität zu erfahren, dann ist das immer mit der Erfahrung der eigenen Würde verbunden. Weil die Spiritualität in die Weite, in die Offenheit führt, ist die eigene Würde auch immer nur zu verstehen als die Würde der anderen.“ Das Umgekehrte gilt natürlich auch: Die Würde der anderen ist nicht zu verstehen ohne die eigene Würde.
In Wirklichkeit Königskinder
Was uns zur Amme und den Bettelkindern und am Ende zum Anfang zurückbringt. Die Figur der Amme taucht in der Erzählung nicht zufällig auf, sondern steht hier für die „grüne Tara“, eine weiblichen Figur des Erwachens. Als solche ist Tara ein Spiegel unserer eigenen Potenziale, unserer eigenen Möglichkeiten – einschließlich der Möglichkeit, zu erwachen. Und einschließlich all der vielen Gelegenheiten für weises, kluges Handeln, großzügige, mitfühlende Taten auf dem Weg dorthin.
Die Amme erinnert an das, was es auf dem spirituellen Weg zu entdecken gibt und was die Bettelkinder – und vielleicht wir anderen auch – nur vergessen haben. Die Amme erinnert uns daran, dass wir uns erinnern können: an die Ungetrenntheit allen Seins und in deren Folge an die Unzerstörbarkeit der Essenz aller Wesen. Wenn nichts zerstört werden kann, kann nichts verloren gehen. Wenn wir nichts zu verlieren haben – sind wir dann nicht alle in Wirklichkeit Königskinder? Und das mit all den Möglichkeiten, die sich uns daraus eröffnen, die eigene Würde und die aller anderen herzustellen und zu hüten.
Radiojournalistin, Autorin, Moderatorin und Kolumnistin.
Als Autorin reist sie zu Menschen, die die Welt nicht einfach hinnehmen wollen, erzählt von Solidarität in den Armenvierteln Chiles, von rettender Musik im Holocaust und von Versöhnung im Völkermord.
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