Kann man mit Wundern rechnen?

Weisheits-Journal

Ausgabe

01/2023
Weisheits-Quartett

Kann man mit Wundern rechnen?

Niemand glaubt heute an Wunder. Natürlich nicht. Schließlich haben wir die Naturwissenschaften, die uns scheinbar unerklärliche Phänomene schon jetzt oder in Zukunft erklären können. Interessanterweise fällt dennoch ganz schön oft der Satz: „Jetzt kann nur ein Wunder helfen.“

In ganz alltäglichen Situationen, zum Beispiel, wenn die Deutsche Bahn mirakulöserweise auf offener Strecke steht. Und steht. Und man selbst aber dringend zum Termin muss. Oder auch, wenn das Schicksal zuschlägt, wenn schreckliche Diagnosen das Leben bedrohen und die Medizin nicht weiterweiß. Inständig wünsche viele Menschen dann ein Wunder.

Also, Hand aufs Herz: Sind wir aufgeklärte Menschen ohne Wunderglauben? Oder kann man mit Wundern rechnen?

Alexandra Huss

Wenn ich mein Leben anschaue, gibt es auf die Frage: „Kann man mit Wundern rechnen?“ nur die Antwort: „Man muss mit Wundern rechnen“.
Als Kind habe ich staunend und überwältigt diese Welt entdeckt. Alles erschien mir groß, seltsam, oft nicht richtig – und doch: wundersam. Ein Hauch von Magie lag über den kleinsten, alltäglichsten Dingen.

Diese Magie finde ich auch als Erwachsene im Schauspiel. Der Körper führt und katapultiert mich in unplanbare Momente. Im Grundlagenunterricht wurde aus einem Kreisen meines Ellenbogens ein Kampf, aus dem ein Tanz, ein Tier, ein Fußballspiel entstand.

Einen Fluss, in dem ich mich bewege und treiben lasse, kenne ich auch aus der Meditation und der Arbeit im Garten. Manchmal ist dann das Wundersame wieder da. In einer Verbindung zwischen mir und etwas Größerem. Ein gleich zweifaches Wunder: das Wunder, dass es etwas Größeres zu geben scheint, und die Erfahrung, dass ich mich damit verbinden kann.

Alexandra Huss übt seit einigen Jahren Zen. Gerade hat sie ihre Ausbildung als Schauspielerin mit einem Bachelor abgeschlossen. Zuvor hat sie zwei Semester Philosophie studiert. Heute lebt sie in der Schweiz auf einem Hof für vegane Landwirtschaft.

Gerhard Bader

Wunder kommt von wundern und ist für mich positiv konnotiert und verwandt mit „ich bin positiv überrascht oder erstaunt“. Von solchen Momenten gibt es in meinem Leben viele und ich möchte sie nicht missen. Ich könnte auch formulieren: Ich rechne jederzeit mit unberechenbaren, wunder-vollen Momenten. Machen diese „Überraschungsmomente“ das Leben doch bunt, lebenswert und bringen mich konkret in den Augenblick. Im Moment des Er-Staunens gibt es nichts anderes als das Staunen. Meiner Überzeugung nach stellen sich solche Momente häufiger ein, wenn ich offen bleibe für Spontanität und nicht alles strukturiere oder kontrolliere.

So kann es auch in einer Firma zu erstaunlichen Situationen oder Ergebnissen kommen. Zum Beispiel, wenn sich meine Mitarbeitenden selbstbestimmt um die Einrichtung des Personalraums kümmern und etwas Wunderschönes daraus entsteht. Oder wenn wir uns im persönlichen Gespräch öffnen und Erstaunliches zutage tritt, Vertrauen und ein geschützter Rahmen für das Preisgeben von Ängsten und Sorgen wächst, die dann zu Wort kommen können: Was fällt mir schwer, mit welchen Kolleginnen oder Kollegen ist die Zusammenarbeit schwierig, wo sind meine Lernfelder? Wenn wir offen sind, können wir über all diese Themen sprechen und gemeinsam erstaunliche Lösungsmöglichkeiten entwickeln.

Gerhard Bader ist der Geschäftsführer des Benediktushofes in Holzkirchen, einem Zentrum für Meditation und Achtsamkeit in den Gebäuden eines ehemaligen Benediktinerklosters aus dem 8. Jahrhundert. Der studierte Wirtschafts-Ingenieur meditiert seit vielen Jahren.

Jürgen Eschner

Eine unserer beiden Katzen ist entlaufen. Wir haben lange und intensiv nach ihr gesucht. Jetzt kann nur noch ein Wunder helfen. Können wir damit rechnen?

Es gibt Studien, ob und wann entlaufene Katzen wieder aufgetaucht sind. Mit den erhobenen statistischen Größen kann man rechnen – im wahrsten Sinn des Wortes. Das Wiederauftauchen selbst nach langer Zeit wäre kein Wunder, sondern das Eintreten eines Ereignisses mit kleiner Wahrscheinlichkeit.

Ein Wunder wäre, wenn etwas Unmögliches geschieht – aber kann man sich der Unmöglichkeit von etwas sicher sein?

Unerklärliches dagegen geschieht. Tatsächlich sind selbst einige quantitativ abgesicherte Beobachtungen, zum Beispiel in der Astronomie, nicht mit dem Stand des Wissens erklärbar. Für den Wundergläubigen könnte es damit aufhören, für die Wissenschaft fängt es dort an. Sie geht nicht von Wundern aus – umso mehr aber vom Wundern: Unerklärtes ist die Antriebsfeder für Erkenntnissuche.

Unsere Katze ist nach einer Woche zurückgekommen. Es fühlt sich wie ein Wunder an.

Prof. Dr. Jürgen Eschner, Physik, Universität Saarland, Die experimentelle Forschung von Jürgen Eschner und seinen Mitarbeitern widmet sich der kontrollierten Wechselwirkung zwischen Licht und Materie im quantenmechanischen Bereich.

Friederike Boissevain

Wunder gibt es nicht. Im Osten herrscht Krieg, wir haben die Alten drei Jahre zwangsisoliert, den Kranken Besuche verwehrt. Wir sehen besorgniserregende polare Ecken in unserer Gesellschaft. Wir leiden an Einsamkeit und Fülle. Wir wissen mehr als je zuvor und haben doch immer weniger Ahnung.

Wunder gab es nie. Noch nicht einmal damals, am Ufer bei Kafarnaum. Warum auch? Wir brauchen keine Wunder. Weder damals noch heute. Wir benötigen nichts extra.

Wir brauchen: Vertrauen darin, die Fragen des Augenblicks in uns keimen zu lassen. Wir brauchen Zuversicht, sie so spontan wie möglich und so weise wie nötig beantworten zu können: spurlos. Immer. Und wir brauchen: unerschütterliche, alltägliche Hoffnung, im Entdecken geübt zu bleiben, solange wir hier sind. Das wiederum gleicht schon fast einem Wunder.

Dr. med. Dr. phil. Friederike Juen Boissevain MSc, Zen-Lehrerin in der Soto-Zen Tradition von Shunryu Suzuki. Sie ist Ärztin für Innere Medizin, Krebserkrankungen und Palliativmedizin, Vorsitzende eines ambulanten Hospizdienstes und Geschäftsführerin eines stationären Hospizes.

Mach mit!

Sie möchten das Weisheits-Journal oder die anderen Projekte der Stiftung unterstützen?

Nach oben scrollen
Skip to content