Weisheits-Journal
Ausgabe
Werden wir auf einem spirituellen Weg heil(er)?
Ruhiger werden. Gelassener werden. Geduldiger werden. Demütiger werden. Liebevoller werden. Wenn Menschen sich auf einen spirituellen Weg begeben, dann, weil sie anders werden wollen. Vielleicht auch, weil sie heil werden wollen. Matthias Lauterbach, Facharzt für Psychiatrie und Facharzt für psychotherapeutische Medizin, viele Jahre Chefarzt und heute Supervisor und systemischer Gesundheitscoach, begleitet Menschen, die sich in diesem Sinne aufmachen.
„Für viele ist die Motivation, wegzugehen von etwas, das sie unzufrieden macht. Sie wollen aus den Stockungen herauskommen, wollen, dass etwas in Fluss kommt. Das ist die Anfangsmotivation. Dann kommt eine Art Heilsversprechen hinzu, sonst würden sie diesen Weg nicht gehen. Wenn nicht gesagt würde, da winkt am Ende etwas ganz Besonderes, was manche Erleuchtung nennen oder Sinnfindung oder wie auch immer. Es braucht beides, das Wegwollen von etwas, das gerade stockt, und einen Weg, der etwas verspricht, wo ich gerne hinkommen möchte.“
Alle Bewegung ist Werden
Gerade die Heil- und/oder Heilungsversprechen, die einen spirituellen Weg umwehen können, oder die manchmal auch explizit gemacht werden, haben eng mit unserem Thema in dieser Ausgabe des Weisheit-Journals zu tun: „Alle Bewegung, die wir im Leben machen, ist verbunden mit einem Werden. Jeder Anfang, wie wir wissen, enthält einen Zauber, dem wir uns nicht immer entziehen können. Dieses Werden ist schon etwas, das uns prägt, und Veränderung ist ein Kennzeichen unseres Lebens. Und zwar Veränderung, dass etwas wird, das vorher nicht da war.“
Für den Mediziner Matthias Lauterbach ist die Gesundheit Ausgangspunkt und zugleich Zielpunkt seiner Arbeit. Nach vielen Jahren als Fach- und Chefarzt bietet er heute systemisches Gesundheitscoaching an. Gesundheit ist dabei kein Zustand für ihn, sondern ein Prozess. „Gesünder zu werden ist ein lebenslanger Prozess der Gesunderhaltung, der gleichzeitig ein Weg und das Ergebnis eines Weges sein kann. Das ist ein bisschen verwirrend, weil Menschen oft meinen, sie könnten Gesundheit haben und auch halten. Das funktioniert leider nicht.“
Gesund und krank gibt es nicht
Wenn Menschen krank sind, dann sagen und wünschen wir oft: „Werde schnell wieder gesund.“ Für Matthias Lauterbach führt dieser Wunsch auf eine falsche Fährte: „Da kommt man ganz schnell in eine Dichotomiefalle. Ich nutze den Begriff ‚gesund‘ eigentlich nicht, er suggeriert etwas, das keinen Makel hat. Gesund zu sein hat aber nicht mit Makellosigkeit, sondern mit Stimmigkeit zu tun.“
Matthias Lauterbach beschreibt sein Angebot des systemischen Gesundheitscoachings als „Begleitung auf dem Weg zu einer vitaleren Lebenspraxis“. Für eine solche braucht es seiner Ansicht nach vier Themenfelder: Sinn, Achtsamkeit, Imagination und Lebensrhythmen, wobei er die Achtsamkeit als Schlüsselqualifikation betrachtet: „Wir brauchen Achtsamkeit im Sinne der Wahrnehmung dessen, was im Moment ist. Und zwar der Wahrnehmung unserer körperlichen, seelischen, emotionalen, geistigen und spirituellen Ausrichtung. Wenn wir das nicht wahrnehmen und uns immer wieder die Zeiten der Stille gönnen, dann sind wir, so sage ich das häufig, im Blindflug unterwegs, dann wissen wir nicht, wo sind wir eigentlich gerade in diesem Prozess der Gesunderhaltung, des gesünder Werdens.“ Im Audio hören Sie, wie Matthias Lauterbach mit seinen Klient:innen Achtsamkeit einübt, um „aus diesem Blindflug auszusteigen“.
Vom Gepäck auf dem Weg
Bleiben noch Sinn, Imagination und Lebensrhythmen. „Die Frage ‚Wozu bist du da?‘ ist als Ausrichtung unabdingbar in der Salutogenese (also für Entwicklung und Erhaltung von Gesundheit, Anmerkung der Autorin), da führt kein Weg dran vorbei.“ An Rhythmen auch nicht: „Wir sind aus dem Takt gekommen. Wir leben nicht unseren Biorhythmus, sondern im Wesentlichen soziale Rhythmen. Das passt manchmal, aber oft passt es auch nicht. Alle unsere Körperfunktionen sind rhythmisiert. Denken Sie nur an Atmung, an Herzschlag, denken Sie an Magen, Darm usw. Und das Interessante: Alle diese Prozesse sind kosmisch gesteuert, alle diese Rhythmen werden synchronisiert.“ Wenn ich nur ein bisschen mehr davon in meinen Alltag integriere, habe ich schon viel gewonnen.
Wer auch immer sich wann auch immer im Leben auf einen spirituellen Weg begibt, hat vorher schon gelebt. Ist bis dahin schon geworden. Und alles, was wir geworden sind, nehmen wir als Gepäck mit auf die Reise. Gepäck, das uns unterwegs auch behindern kann: „Je weniger Gepäck ich habe, desto erfahrungsreicher wird mein Leben. Aber dafür braucht es die Erfahrung, dass ich da durchkomme. Spätestens, wenn ich das Gefühl habe, ich kann das nicht mehr schleppen, ich komme nicht vorwärts, ist es gut, mal zu schauen, welche Wackersteine im Rucksack sind und wie sie da wieder rauskommen könnten.“
Warum das Versprechen vom Heilwerden eine Falle ist
Zum Schluss kommen wir noch einmal auf das Heilwerden zurück, darauf, wann wir auf einem spirituellen Weg die Chance haben, heil zu werden. Oder zumindest heiler. Wann wird das Versprechen, das uns auf den Weg bringt, zumindest zum Teil einlöst? „Diese Frage weist auf eine Falle hin. Denn das, was wir in der Achtsamkeit üben, ist die absolute Gegenwärtigkeit. Das heißt: Sobald ich mich hinsetze und die Idee haben, dass ich etwas werden will, bekommen wir schon das Problem mit dem Werden. Werden liegt in der Zukunft, nicht mehr in der Gegenwart. Trotzdem setzen wir uns hin, um etwas zu tun. Aus der Paradoxie, absichtlich etwas Absichtsloses zu tun, kommen wir nicht heraus. Das heißt, ich setze mich absichtlich hin, meditiere, mach meine Übung der Achtsamkeit, Yoga oder was ich auch immer mache. Aber der zentrale Punkt ist das Erleben der Gegenwärtigkeit. Weil wir nur darin leben. Vergangenheit spielt sich in der Gegenwart ab. Zukunft spielt sich in der Gegenwart ab. Deswegen ist alles, was ich über Weg weiß, über das Gelände, notwendig, aber es ist nicht hinreichend. Weil ich sonst mein Leben verpasse, wenn ich nur in der Zukunft oder der Vergangenheit lebe.
Die Kunst und das Heilsame ist – und das ist wirklich eine Übung –, immer wieder in der Gegenwart anzukommen. Darum kreist es, und alles andere sind Fragen, die einen sehr schnell in die Irre führen.
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