Weisheits-Journal
Ausgabe
Wie bleiben wir in Verbindung, wenn wir uns nicht mehr auf eine gemeinsame Wahrheit einigen können?
Das Weisheit-Quartett spielt im großen Feld von Meditation und Wissenschaft.
Wir stellen vier ganz unterschiedlichen Menschen aus diesem Feld Fragen, die uns alle angehen. Und wir sind jedes Mal aufs Neue gespannt, wie unterschiedlich Weisheit antworten kann.
Corona, Krieg und Klimakatastrophe. Wir leben in komplexen Zeiten, die starke Emotionen und Ängste auslösen. Fakten und Fakenews werden munter mit Meinungen vermischt. Solange unvereinbare Haltungen nur in der Zeitung oder im Internet aufeinanderprallen, mag es mit Kopfschütteln von uns getan sein.
Was aber, wenn unvereinbare Meinungen unter den eigenen Liebsten, in Freundeskreis und Familie auftauchen?
Kurzum: Wie bleiben wir in Verbindung, wenn wir uns nicht mehr auf eine gemeinsame Wahrheit einigen können?
© Martina Thalhofer
Alexandra Huss
Vermutlich reise ich nie nach Tibet. Oder sonst wohin wo ich fliegen müsste. Ich esse auch kein Fleisch oder etwas, für das Tiere leiden müssten. Das ist schon so lange, so selbstverständlich für mich, dass ich oft sehr überrascht bin, wenn andere anders entscheiden. Eine Freundin fliegt für ein Casting von Zürich nach München. Bei meinen Eltern lebt jetzt eine ukrainische Familie, die ausschließlich billigstes Fleisch kauft. Dozierende, die uns über die Klimakatastrophe unterrichten, fahren mit einem SUV an der Uni vor.
Und dann beobachte ich mich dabei, wie ich – nichts sage. Dabei weiß ich: Vermeidung hilft nicht. Aber wie soll ich mit diesen so unterschiedlich gelebten Wahrheiten umgehen? Denn: Kein Fleisch, keine Flüge, ist meine Wahrheit aus meinem Wissen über die Klimakatastrophe. Aber muss ich dann nicht mehr dafür eintreten? Auch wenn ich Angst habe, dass eine Beziehung zerbricht. Ich wünsche mir, dass ich, dass wir mutiger einstehen für das, was wir lieben.
Alexandra Huss übt seit einigen Jahren Zen. Gerade hat sie ihre Ausbildung als Schauspielerin mit einem Bachelor abgeschlossen. Zuvor hat sie zwei Semester Philosophie studiert. Heute lebt sie in der Schweiz auf einem Hof für vegane Landwirtschaft.
© Thomas Appel
Gerhard Bader
Wichtig ist mir immer im Gespräch zu bleiben. In meinem sehr wissenschaftlich ausgelegtem Ingenieur-Studium habe ich gelernt: Niemand hat die Wahrheit „gepachtet“ und bei neuer Datenlage muss ich immer wieder meine Überzeugung anpassen. Einen Absolutheitsanspruch gibt es meiner Meinung nach nicht. Mit dieser Prägung und aus einer grundsätzlich wertschätzenden Haltung heraus toleriere und akzeptiere ich „Andersmeinungen“ (sofern es anderen nicht schadet) und suche immer nach einem möglichen verbindenden Kompromiss.
Solche verbindenden Kompromisse bei verschiedenen Wahrheiten musste ich in der Pandemie als Geschäftsführer eines Tagungshauses viele suchen. Das führte mal dazu, dass wir Regeln explizit eingehalten haben. Z.B. wenn KursleiterInnen anderen Wahrheiten folgten, als mit der Fürsorgepflicht für die Teilnehmenden vereinbar gewesen wären. Mal aber haben wir Verordnungen weiter ausgelegt: Gesetzlich erlaubt war es z.B., in der Quarantäne die Lohnfortzahlung bei nicht geimpften MitarbeiterInnen einzustellen. Die existentiellen Ängste, die diese Verordnung ausgelöst hat, wollten wir nicht zulassen und haben auch im gegebenen Fall ungeimpften MitarbeiterInnen den Lohn weitergezahlt. Alle mitnehmen ist, so möglich, wichtiger, als auf meiner Wahrheit zu bestehen.
Gerhard Bader ist der Geschäftsführer des Benediktushofes in Holzkirchen, einem Zentrum für Meditation und Achtsamkeit in den Gebäuden eines ehemaligen Benediktinerklosters aus dem 8. Jahrhundert. Der studierte Wirtschafts-Ingenieur meditiert seit vielen Jahren.
© Oliver Dietze
Jürgen Eschner
Abgebildet auf die Wissenschaft ist die Situation eigentlich ein Antreiber. Unterschiedliche Ergebnisse, oder deren Interpretation, müssen in Einklang gebracht werden, damit man darauf aufbauen kann. Insofern lebt die Wissenschaft vom Zweifel, vom Widerspruch – und natürlich von deren Aufklärung. Gleichzeitig sind sich (die meisten) Wissenschaftler darüber im Klaren, dass ihre Ergebnisse zwar die beste aktuell verfügbare Beschreibung sind, aber möglicherweise nicht endgültig – und zudem immer in einem gewissen Maße unsicher. Trotz Vorläufigkeit und Unsicherheit müssen weitere Schlussfolgerungen oder Handlungen aber dennoch auf dem Stand der Dinge basieren. Da sind Irrwege auch nicht ausgeschlossen.
Der Einigungsprozess der Wissenschaft lässt sich eventuell in die Gesellschaft abbilden: Wenn die Richtigkeit von Ergebnissen strittig ist, dann muss überprüft werden, wie diese gewonnen wurden – die Methoden, die Annahmen, die Axiome, usw. Dieses Vorgehen beruht allerdings immer noch auf der in der Wissenschaft geteilten Überzeugung, dass sich immer ein Konsens, eine „gemeinsame Wahrheit“ herstellen lässt. Wissenschaft ist mit unterschiedlichen Wahrheiten nicht verträglich. Wenn man immer weiter zurück geht und es dennoch nicht gelingt, einen gemeinsamen Ausgangspunkt zu finden, dann steht der gemeinsamen Wahrheit offensichtlich das persönlich Geglaubte im Wege. Die Verbindung scheitert, wenn das persönlich Geglaubte über eine wissenschaftliche Denkweise gestellt wird.
Empfehlungen: Bücher von Carl Sagan; Film „Contact“.
Prof. Dr. Jürgen Eschner, Physik, Universität Saarland, Die experimentelle Forschung von Jürgen Eschner und seinen Mitarbeitern widmet sich der kontrollierten Wechselwirkung zwischen Licht und Materie im quantenmechanischen Bereich.
© privat
Friederike Boissevain
Sein Zorn spürbar selbst durch FFP2. „Die sollen hingehen, wo sie herkommen! Dieses Land gehört uns Deutschen!“ Gerade habe ich ihn geimpft. Kostenfrei. Der beschichtete Stent. Die neueste Zuckertablette.
Zum Abschied reiche ich ihm die Hand. Er nimmt sie an. Weich, feucht, warm. Leiser als erwartet schließt die Türe hinter ihm.
Wir alle tragen polare Anteile. Wir haben die Wahl. Möchten wir diese oder jene Anteile stärken?
Wir stehen immer in Verbindung. Wir schauen hinaus: Blätter. Amselhüpfen.
Wir sehen uns um: Scheuereimer. Unser Nachbar winkt hinüber.
Wir spüren: Füße auf dem Boden. Unser Zwerchfell gleitet.
Meinungen sind Herbstblätter im Abendwind. Nicht unbedingt die Freunde, die man sich wünscht am letzten Krankenbett.
Tief in uns pulsiert ein Herz, das weiß, was gut ist und gesund. Was zufrieden macht und glücklich. Wahres Glück bedeutet immer auch: das Glück der anderen. Ein Herz kennt keine Jahreszeiten. Wir alle tragen ein Herz.
Dr. med. Dr. phil. Friederike Juen Boissevain MSc, Zen-Lehrerin in der Soto-Zen Tradition von Shunryu Suzuki. Sie ist Ärztin für Innere Medizin, Krebserkrankungen und Palliativmedizin, Vorsitzende eines ambulanten Hospizdienstes und Geschäftsführerin eines stationären Hospizes.
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